Mein Name ist Sandra. Ich gehe auf Heldenreise, weil eine Freundin es mir empfohlen hat. Ich bin ganz schön negativ unterwegs, meint sie. Ja, weiß ich. Ich habe das Gefühl, festzustecken in meinem Leben, es geht nicht vor und nicht zurück. Ich will ja gerne anders, aber..., will ich ansetzen. Und sage dann doch nichts, sondern gehe ins Internet und schaue mir mal genauer an, was das so sein soll.
Viele Jahre habe ich einen geliebten Menschen gepflegt, er ist vor ein paar Monaten gestorben. Da ist noch Trauer und Abschiedsschmerz. Aber da ist auch freigewordene Zeit und Energie. Die ich nutzen will, sinnvoll einsetzen. So wie es ist, soll und darf und kann es nicht weitergehen. Doch wie stattdessen? Das weiß ich nicht. Die Heldenreise soll das richtige sein für Menschen, die einen Konflikt erleben zwischen Sehnsucht nach Veränderung und Sicherheitsbedürfnis. Ja, kenn ich nur zu gut. Also melde ich mich an. Ich möchte mich beruflich verändern, Pflexit, raus aus der Pflege, das ist das gesetzte Ziel für das bevorstehende Abenteuer. Eine Woche aufwenden, bisschen Gestalttherapie, Heldenreise zu Ende bringen und dann mit Klarheit und einer Vision und ordentlich Tatkraft rausgehen, das ist der Plan.
Die Zweifel und der Widerstand und ordentlich viel Unlust wachsen fleißig in den Tagen vor dem Aufbruch. Sieben Tage ist einfach viel zu lang, denke ich. Möge der Handyempfang gut sein, bete ich. Warum hab ich das eigentlich gebucht, frage ich. Das wird doch kein völlig esoterischer Kram sein, hoffe ich.
Und dann geht mein Auto kaputt. Muss in die Werkstatt, ich werde ohne Möglichkeit zum sicheren Rückzug irgendwo weitab von Bahnhöfen und Bushaltestellen festsitzen. Fühlt sich ziemlich unkomfortabel an.
Ich kann mit einem anderen Teilnehmer anreisen, der bei mir in der Nähe wohnt. Ich komme mit vielen Fragezeichen und noch mehr Skepsis in die Eifel. Aber: Die Mühle, in der wir die nächste Woche verbringen werden, ist wunderschön. Alt, verwinkelt, jede Diele knarzt und jeder Raum atmet Geschichte. Das Leitungsteam begrüßt uns sowas von herzlich! Außerdem gibt es Kuchen, alles ziemlich okay bislang.
Und dann beginnt es.
Und macht mich ganz schön atemlos.
"Out of your comfort zone is where the magic happens", so heißt es. Und was ich hier erlebe, ist weit, weit, weit entfernt von meiner Komfortzone. Und was ich hier erlebe, ist ganz schön magisch!
Da ist eine so fantastische Vielfalt an Methoden und Herausforderungen, dass sie meinen inneren Comiczeichner wecken. Er breitet eine märchenhafte Welt vor mir aus, bebildert die Schritte meiner inneren Reise und gibt mir dabei gleich neue Hinweise mit auf den Weg. Wie reich doch meine innere Bilderwelt ist! Ich begegne Helden und Dämonen, Mitstreitern und Gegenspielern, machtvollen Gegenständen und Göttinnen und Geistwesen und Tierwesen und mir.
Und ich lerne. Über mich, ich begegne mir und lerne mich kennen, immer wieder. Ich lerne etwas über meine Fähigkeit, Ja zu sagen und Nein. Es geht um meine Gaben und Begrenzungen, um vergessene Impulse und Lebendigkeit und Mut.
Kundige Reiseleiter:innen und tatkräftige Unterstützer:innen, Selbstverantwortung und Selbstüberwindung, Herausfordern meines inneren Widerstandes, das Erleben von Zugewandtheit und Verbundenheit: Es ist diese fantastische Gruppe, die das ermöglicht, hält und aushält und bezeugt. Ich fühle mich durchgerüttelt wie bei einer Achterbahnfahrt, und von innen nach außen gekrempelt wie ein zu eng gewordener Handschuh. Und dadurch öffnet sich Raum für Erkenntnis und wahrhaftige Begegnungen.
Ich lasse mich ein, wir verweben unsere persönlichen Geschichten mit Ritual, Mythos und Theater, ich werde zur Hauptdarstellerin meiner eigenen Geschichte und kann sie dadurch auf völlig neue Weise erleben. Ich lerne meine Widerstände und Ausflüchte und Ängste und Zweifel besser kennen, und meine Ziele und Wünsche und Sehnsüchte und Visionen. Die Heldenreise ist auch eine Bewusstseinsschulung. Und eine Art Anleitung, der sprichwörtliche Ariadnefaden, um Veränderung möglich zu machen.
Die Zeit rast. Selten habe ich das Gefühl gehabt, dass eine Woche so prallgefüllt war und so rasch vorüber. Die Tage sind lang und intensiv und strukturiert. Gemeinsame Mahlzeiten, Meditation, Reiseetappen, Heldenschule. Wir erhalten immer wieder Informationen und Erklärungen, um das vor uns Liegende und das Erlebte einordnen zu können. Es gibt viel Raum für Austausch untereinander.
Und all dieses Erleben ist eingebettet in eine reiche Landschaft, ein Bach in der Nähe, beeindruckende Felsen, Wald, ein zauberhafter Wasserfall, eine Kapelle, Abgeschiedenheit und diese fantastische Mühle. Es gibt liebevoll zubereitetes vegetarisches Essen und Wärme am Kamin. Musik, Tanz, Spiele. Tollen und Kuscheln. Ausgelassenheit und Stille. Und ziemlich wenig Schlaf.
Und dann ist es vorüber. Zeit des Abschieds, Zeit der Rückkehr. Den Rucksack packen und Inventur machen: Was nehme ich mit?
Meine Erwartungen haben sich nicht erfüllt. Es ist ganz anderes geschehen, als ich meinte zu brauchen oder zu wollen. Ich habe keinen ausgefeilten Plan für meine berufliche Zukunft entwickelt, sondern kehre zurück mit einem neuen Blick auf mich selbst und mein Leben, mit mehr Bewusstheit und Offenheit. Es ist etwas geschehen, das weit darüber hinausgeht, was ich gehofft oder erwartet habe.
Meine Befürchtungen haben sich alle erfüllt und wurden sogar noch übertroffen - und das war wunderbar und gut und genau das richtige, um mich weit aus meiner Komfortzone herauszukatapultieren.
Dass ich diese Heldenreise gemacht habe, ist eine der besten Entscheidungen und eine der wertvollsten Erfahrungen meines bisherigen Lebens, da bin ich voller Überzeugung. Und ich bin unendlich froh, dass ich Christina und ihr Team zu meinen Reiseleiter:innen wählte. Sie waren kundige Kenner des mythischen Terrains, Anfeuerer, Arschtreter, Geburtshelfer, Mentor, Schelm und Schalk, und stets voller Herzlichkeit und Ermutigung.
Ich nehme Dankbarkeit mit mir. Für die Unterstützung all der wunderbaren Reisegefährt:innen und Reise(ver)führer:innen, die mir immer wieder den nächsten Schritt ermöglichten, auch wenn sich mein innerer Widerstand übermächtig anfühlte. Für jede einzelne dieser bereichernden Begegnungen mit ihnen bin ich dankbar, sie alle haben mich tief berührt.
Ich nehme den Wunsch mit, mir auch weiterhin dieses Gefühl von Verbundenheit und Lebendigkeit zu bewahren und zu gestatten. Ich fasse die Vorsätze, mehr zu tanzen und mehr zu lachen und mehr Spontaneität und Schlagfertigkeit zuzulassen. Ich möchte meinem Gegenüber in die Augen schauen und spüren, was dabei entsteht.
Der Kreis der Helden wird größer und größer, wenn der Abschied gekommen ist. Eben waren wir noch eine Gruppe, und nun müssen wir auseinandergehen und zurückkehren in unser ursprüngliches Leben. Da ist noch die Wärme und das Wissen um die anderen in mir. Ich vermisse sie. Alle.
Und zurück im Alltag spüre ich, wie die Erlebnisse verblassen. Das Gefühl, mit dem ich zurückkam und das ich unbedingt festhalten wollte, es lässt sich nicht festhalten. Ein Saatkorn kann in der Hand keine Keime bilden und nicht sprießen. Es braucht dafür Zeit und Erde und Wasser und Licht und Hege und Pflege. Und noch mehr Zeit. Und da stehe ich jetzt: Erst ganz am Anfang.
Es war einmal ein Mensch, und dieser Mensch bin ich. Und ich erwachte und da waren kein Helden und keine Dämonen. Ich erwachte als die Person, die ich schon immer gewesen war. Und doch war ich wundersam verändert. Und all das war nur die Vorbereitung gewesen für alles, was nun folgen würde.
Und so beginnt meine Heldenreise.
Sandra, 42, im Dezember 2021
"Es war einmal ein Mensch, und dieser Mensch bin ich…"
"Es war einmal", so beginnen viele alte Geschichten. Dass ein Teil meiner Geschichte auch einmal so beginnt, hätte ich nie gedacht.
Von der Heldenreise erfuhr ich auf ganz prosaische Weise, nicht im World Wide Web oder durch geheime Mundpropaganda, sondern durch ein Faltblatt im Supermarkt. Zunächst konnte ich nicht wirklich etwas damit anfangen. Allenfalls in einer Hinsicht; denn anders als die meisten, die sich auf ein solches therapeutisches Abenteuer einlassen, hatte ich Campbell gelesen.
"Der Heros in tausend Gestalten" von Joseph Campbell, 1949 erschienen, gehört in eine Reihe von Studien zur vergleichenden Mythologie, wie sie vor allem gegen Ende des neunzehnten und in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts geschrieben wurden. Das bekannteste Beispiel ist "Der goldene Zweig" von J. G. Frazer, worin aus Mythen verschiedener Völker das Motiv des Königs herausgefiltert wird, der im Herbst den rituellen Opfertod stirbt und im Frühling wiederaufersteht – eine mythologische Überhöhung des Prozesses von Aussaat und Ernte. Campbells "Monomythos" ist eine allgemeinere Form dieses Schemas. Er zeigt eine Grundstruktur menschlicher Erfahrung auf.
In seinen eigenen Worten:
"Der Held verlässt die Welt des gemeinen Tages und sucht einen Bereich übernatürlicher Wunder au, besteht oft fabelartige Mächte und erringt einen entscheidenden Sieg, dann kehrt er mit der Kraft, seine Mitmenschen mit Segnungen zu erfüllen, von seiner geheimniserfüllten Fahrt zurück."
Dieses Schema der Heldenreise mit seinen verschiedenen Rollen lässt sich in vielen Romanen finden, etwa bei J.R.R. Tolkien in "Der Hobbit" und "Der Herr der Ringe". Ich habe selbst Campbells Struktur als Muster in Seminaren für Autoren verwendet, in denen es um das Erzählen von Geschichten ging. Der Gedanke, dies am eigenen Leib zu erfahren, hatte einen gewissen Reiz.
Ein Intensivseminar, eine Woche lang, in einer Gruppe mit unbekannten Menschen, an einem abgelegenen Ort, in diesem Fall irgendwo in der Eifel. Ohne zu wissen, auf was man sich wirklich einlässt. Dazu muss man entweder recht abenteuerlustig sein oder schon ziemlich verzweifelt. Na ja, ein wenig von beidem auf jeden Fall. Tatsächlich sollte sich herausstellen, dass jeder von meinen Reisegefährten sein Päckchen zu tragen hatte – und in gewisser Weise zu einer Lösung kam oder zumindest zu einem persönlichen Schritt nach vorn. Allerdings besagt die Vorgabe, auf die wir uns geeinigt haben, dass über die persönlichen Details wie auch den eigentlichen Prozess Vertraulichkeit gewahrt bleibt. Darum ist es auch schwer, mein eigenes Erlebnis in Worte zu fassen. Aber ich greife vor.
Wie sollte das alles vonstatten gehen? Nun, hier kommt Paul Rebillot ins Spiel. Von dem ich, im Gegensatz zu Campbell, noch nie gehört hatte.
Er war schon ein ziemlich schräger Vogel, dieser Paul Rebillot. Geboren in Detroit, arbeitete er nach einem einschlägigen Studium als Stückeschreiber, Schauspieler und Intendant fürs Theater. Der Militärdienst in Japan brachte ihn mit dem Nō-Theater in Berührung, und er war fasziniert von dessen stilisierter und ritualisierter Form. Nach seiner Rückkehr in die USA gründete er 1968 in San Francisco "The Gestalt Fool Theater Family", eine Kommune und radikale Performance-Gruppe, und begann mit einer Kombination von Theater, Ritual und Therapie zu experimentieren. Dies waren die wilden Sechzigerjahre, und natürlich spielten auch Drogen eine Rolle. Rebillot rutschte selbst in eine Psychose ab, aus der er sich nach langem Kampf wieder befreite.
In der Folge kam er an das Esalen Institute in Bug Sur, Kalifornien, wo er Erfahrungen mit gestalttherapeutischen Methoden machte – und unter anderem Joseph Campbell kennenlernte. Danach sah er seinen Weg klar vor sich: eine Konzeption von Theater als Heilung zu entwickeln, eine moderne Form des Rituals, das ähnlich wie die Initiationsrituale "primitiver" Völker Körper und Psyche einbezieht.
Zurück in die Eifel, ein altes, verwinkeltes Fachwerkhaus – eine ehemalige Mühle – mit Holzbalken, schiefen Treppen und knarrenden Fußböden. Dazu ein großer, luftiger Raum, der an einen Meditationsraum erinnert. Mit Meditation bzw. Achtsamkeit hatten die meisten Teilnehmer, wie auch ich, schon Erfahrung. Es war die erste gemeinsame Grundlage und der Ausgangspunkt für das Theater, das sich in den nächsten sieben Tagen dort entfalten sollte.
Sieben Tage in einer Gruppe, vegetarische Kost, kein Tropfen Alkohol, und ein intensives Programm von morgens früh bis spätabends. Das ist schon grenzwertig. Und das alles für ein therapeutisches Theaterspiel?
Theater zu spielen, bei dem man verschiedene Rollen ausagiert, die Aspekte von einem selbst sind, ist die Grundlage für Rebillots "Heldenreise"-Prozess. Dies und die Geschichte, die sich dabei entwickelt, teilweise vorgegeben durch Campbells Grundstruktur, teilweise auch in der Interaktion der Rollenbilder mit überraschenden Aspekten und Einsichten. Die helle und die dunkle Seite des Ichs können beide unglaublich starke Kräfte freisetzen. Es ist eine anstrengende Erfahrung, auch durch die Arbeit, die der Körper dabei leistet, aber sie führt dazu, dass am Ende das Ritual zur Selbsterfahrung und die Trennung zwischen Spiel und Wirklichkeit unscharf wird. Dieser Prozess, der zugleich ein Gruppenerlebnis ist, erfordert auch eine ständige Führung und Begleitung durch geschulte Therapeuten, damit er zu einem Ergebnis führt. Was bei Christina Hoffmann und ihren beiden Mitleitern Sylvia Sperlich und Felix Lippold der Fall war – ein Glücksfall, wie die Teilnehmer übereinstimmend feststellten.
Am Ende fühlte ich mich wie in einem Zustand gesteigerten Bewußtseins, der noch einige Zeit anhielt und dann langsam verebbte. Wie nachhaltig er sein wird, wird sich zeigen. Aber die Erfahrung als solche erwies sich als lehrreich und wird es auch bleiben.
Die Wirklichkeit verändert sich nicht, aber meine Wahrnehmung hat sich verändert. Und meine Gefährten auf der Reise vermisse ich heute noch immer.
Neugierig geworden?